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Der Pastor und die Macht



Eine junge Frau sitzt in meinem Büro. Tränen laufen über ihr Gesicht, während sie von ihrer zerbrochenen Ehe erzählt. "Was soll ich tun, Herr Pastor?" fragt sie. Die Frage hängt schwer im Raum. In diesem Moment wird mir wieder bewusst, welche Macht mir meine Rolle verleiht – eine Macht, die ich weder gesucht habe noch ablehnen kann.


Die geistliche Autorität des Pastors ist eine seltsame Form der Macht. Sie kommt auf leisen Sohlen daher, oft unerkannt, manchmal unterschätzt, aber immer wirksam. Sie zeigt sich in kleinen Gesten: Wenn Menschen verstummen, sobald "der Pastor" spricht. Wenn ein Wort von uns besonderes Gewicht erhält, einfach weil wir es sind, die es aussprechen. Wenn Menschen uns ihre tiefsten Geheimnisse anvertrauen, nur weil wir dieses Amt bekleiden.


Die verborgenen Dynamiken dieser Autorität sind komplex. Sie speisen sich aus verschiedenen Quellen: der traditionellen Rolle des Geistlichen als Mittler zwischen Gott und Mensch, der professionellen Expertise in Glaubens- und Lebensfragen, der symbolischen Bedeutung des Amtes in Krisensituationen. Aber vor allem entstehen sie aus der besonderen Verletzlichkeit der Menschen, die uns begegnen.


In der Seelsorge, in Kasualien, in persönlichen Krisen – immer wieder werden wir zu Zeugen und Begleitern intimer Lebensmomente. Menschen öffnen vor uns nicht nur ihre Herzen, sondern auch ihre Wunden. Sie suchen bei uns Rat, Trost, Orientierung. Diese Offenheit schafft ein Machtgefälle, das wir nicht ignorieren dürfen.


Die Versuchungen der Amtsmacht sind subtil und gerade deshalb so gefährlich. Sie kommen selten in Form offensichtlichen Machtmissbrauchs daher. Viel häufiger schleichen sie sich ein als kleine Privilegien, als selbstverständlich gewordene Sonderbehandlung, als schmeichelnde Bestätigung unserer vermeintlichen Wichtigkeit.


Es gibt diese Momente:

- Wenn wir die Bewunderung der Gemeinde zu genießen beginnen

- Wenn wir unsere theologische Bildung als Waffe einsetzen

- Wenn wir die Abhängigkeit anderer von unserem Rat kultivieren

- Wenn wir anfangen zu glauben, wir stünden über den normalen Regeln

- Wenn wir die Macht der Seelsorge für eigene Interessen missbrauchen


Die geistliche Autorität kann zu einer gefährlichen Droge werden. Sie verschafft uns Anerkennung, Einfluss, das Gefühl von Bedeutsamkeit. Sie kann unseren Narzissmus nähren, unsere Kontrollbedürfnisse befriedigen, unseren Hunger nach Bestätigung stillen. Der Übergang von legitimer Amtsausübung zu subtiler Manipulation ist oft fließend.


Jesus selbst warnte vor den Verführungen religiöser Macht. Seine schärfste Kritik galt denen, die ihre geistliche Autorität zur Selbsterhöhung missbrauchten. Er stellte dem ein radikal anderes Modell gegenüber: den Hirten, der sein Leben für die Schafe gibt. Den Diener, der nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen.


Der dienende Umgang mit Einfluss beginnt mit der ehrlichen Anerkennung der eigenen Machtposition. Wir müssen uns eingestehen, dass wir Macht haben – ob wir sie wollen oder nicht. Erst diese Ehrlichkeit ermöglicht einen verantwortungsvollen Umgang damit. Sie schärft unsere Wahrnehmung für die feinen Grenzüberschreitungen, die im pastoralen Alltag so leicht geschehen können.


Konkret bedeutet das:

- Regelmäßige Selbstreflexion über unseren Umgang mit Autorität

- Klare professionelle Grenzen in der Seelsorge

- Bewusstes Teilen von Macht und Verantwortung

- Förderung der Eigenständigkeit und Mündigkeit anderer

- Bereitschaft, uns selbst infrage stellen zu lassen


Eine besondere Herausforderung liegt in der Balance zwischen notwendiger Führung und dienender Haltung. Die Gemeinde braucht Leitung, braucht manchmal auch klare Worte und Entscheidungen. Aber wie können wir führen, ohne zu herrschen? Wie können wir Autorität ausüben, ohne autoritär zu werden?


Die Antwort liegt vielleicht in einem Verständnis von Macht als anvertrautem Gut. Wie die Talente im biblischen Gleichnis ist auch die pastorale Autorität eine Leihgabe, die wir verantwortlich verwalten sollen. Nicht zu unserem eigenen Nutzen, sondern zum Wohl derer, die uns anvertraut sind.


Echte geistliche Autorität wächst paradoxerweise dort, wo wir bereit sind, auf Macht zu verzichten. Wo wir nicht auf unserer Wichtigkeit beharren. Wo wir transparent sind mit unseren eigenen Schwächen. Wo wir andere ermächtigen, statt sie von uns abhängig zu machen. Wo wir Raum lassen für die eigentliche Autorität – die Gottes.


Als die junge Frau mich nach Rat fragt, spüre ich die Verantwortung dieser Rolle. Ich könnte ihr sagen, was sie tun soll. Könnte die Macht meines Amtes nutzen, um ihre Entscheidung zu beeinflussen. Stattdessen höre ich zu. Stelle Fragen. Helfe ihr, ihre eigenen Antworten zu finden. Manchmal bedeutet geistliche Autorität auch, sie bewusst nicht auszuüben.


Die Macht des pastoralen Amtes bleibt eine tägliche Herausforderung. Sie verlangt von uns höchste Wachsamkeit und ständige Selbstprüfung. Aber wenn wir lernen, sie als Werkzeug des Dienens zu verstehen und zu gebrauchen, kann sie zu dem werden, was sie sein soll: nicht Mittel der Selbsterhöhung, sondern Instrument der Liebe Gottes. Nicht Last der Verantwortung, sondern Privileg des Dienens. Nicht Versuchung zur Herrschaft, sondern Ruf in die Nachfolge dessen, der Macht durch Hingabe neu definierte.




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